Oxidativer Stress

Quelle: Wikipedia

Als oxidativen Stress bezeichnet man eine Stoffwechsellage, bei der eine das physiologische Ausmaß überschreitende Menge reaktiver Sauerstoffverbindungen (ROS – reactive oxygen species) gebildet wird bzw. vorhanden ist. Diese reaktiven Sauerstoffverbindungen entstehen im Rahmen von Stoffwechselvorgängen der mitochondrialen Elektronentransportkette und Cytochrom-P450-Oxidasen. Dabei handelt es sich um das Superoxid-Anionenradikal O2·−, Wasserstoffperoxid (H2O2) und das Hydroxylradikal OH.[1] Als Erfinder des Begriffes oxidativer Stress im Jahr 1985 gilt Helmut Sies.[2]

Normale Zellen im Organismus halten ihre Fähigkeit, reduzierende oder oxidierende Stoffe zu neutralisieren, aufrecht, indem sie oxidierende bzw. reduzierende Stoffe produzieren und bevorraten. Ein Ungleichgewicht zwischen diesen Pools, das die normale Reparatur- und Entgiftungsfunktion einer Zelle überfordert und folglich zu einer Schädigung aller zellulären und extrazellulären Makromoleküle führen kann, wird als oxidativer Stress bezeichnet.[1][3]

Auswirkungen

Zu den Folgen eines hochgradigen oxidativen Stresses gehören die Lipidperoxidation – die letztlich dazu führt, dass Zellen mehr Energie aufwenden müssen, um ihr Membranpotenzial zu stabilisieren –, die Proteinoxidation und die Schädigung der DNA. Diese drei Vorgänge gelten als mitursächlich für den Alterungsprozess und eine geringere Lebenserwartung.[1] Demgegenüber sind niedriggradige oder intermittierende Expositionen gegenüber oxidativem Stress gesundheitsfördernd und lebensverlängernd. Diese nicht-lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung (d.h. niedrigdosiert=gesund, aber hochdosiert=krankmachend) wird als „Mitohormesis“ bezeichnet.[4][5][6][7]

Schutzsysteme

Zellen und Geweben stehen verschiedene Schutzmechanismen gegen oxidativen Stress zur Verfügung:

  1. Antioxidatives Schutzsystem - enzymatische und nichtenzymatische Radikalfänger und Antioxidantien[1]
  2. Sekundärer Schutz - Reparaturmechanismen der DNA und geregelter Abbau von Proteinen (-turnover)[1]

Freie Radikale

Durch die Atmungskette werden freie Radikale gebildet, die bevorzugt zu einer Schädigung der mitochondrialen DNA (ursächlich ist die enge räumliche Beziehung) führen.[1]

Die Nettoreaktion in der Atmungskette der Zellen ist die exergonische Reaktion von Sauerstoff mit Wasserstoffionen zu Wasser. Trotz ausgiebiger Schutzmechanismen ist dieser Prozess in etwa zwei Prozent der Fälle unvollständig, indem sich nur ein Wasserstoffatom mit einem Sauerstoffatom verbindet und zu reaktiven Sauerstoffverbindungen weiter reagiert.

Rolle bei der Entstehung von Erkrankungen

Trotz zahlreicher Korrelationen von oxidativem Stress mit verschiedenen Krankheitszuständen konnte noch kein gesicherter Zusammenhang bewiesen werden. Insbesondere existiert keine auf der Behandlung von oxidativem Stress beruhende und evidenzbasierte Therapie. Vielmehr trifft das Gegenteil zu: Mehrere Metaanalysen kamen zu dem Schluss, dass die dem oxidativen Stress entgegenwirkende Gabe von Antioxidantien (besonders von beta-CarotinVitamin A und Vitamin E) beim Menschen die Entstehung von Krankheiten einschließlich Krebs fördert.[8][9]

In jüngerer Zeit wird der Einfluss reaktiver Sauerstoffspezies auf die Entstehung von oxidativem Stress insbesondere im Hinblick auf neurodegenerative Erkrankungen wie Schlaganfall,[10] Morbus Parkinson, Morbus Alzheimer, Chorea Huntington oder auch Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) untersucht. In diesem Zusammenhang weisen viele Studien vor allem bei der Parkinson'schen Erkrankung, die durch den Untergang dopaminerger nigrostriataler Neurone in den Basalganglien gekennzeichnet ist, auf ein Überhandnehmen freier Sauerstoffradikale unter Eisenbeteiligung und auf hierdurch generierten oxidativen Stress mit schädigender Umwandlung physiologischerweise in der Substantia nigra vorkommender Proteine (z. B. α-Synuclein) hin. Auch bei der diabetischen Neuropathie sind Zeichen erhöhten oxidativen Stresses nachweisbar.[11] Diskutiert wird ferner eine Genese oxidativen Stresses nach Bestrahlung oder auch durch Hypoxie bzw. Hyperoxie und die sich hieraus ergebende Begünstigung neurodegenerativer Erkrankungen.[12][13] Auch bestimmte Herz-Kreislauferkrankungen wie z. B. Arteriosklerose oder Koronare Herzkrankheit könnten durch oxidativen Stress mitbedingt sein,[14] da die Oxidation des LDL im Endothel als eine Vorstufe von Plaquebildung angesehen wird. Derzeit wird allgemein davon ausgegangen, dass krankheitsauslösende oder -begünstigende Faktoren für ein Überwiegen oxidativen Stress generierender Substanzen gegenüber Entgiftungsmechanismen (s.u.) verantwortlich zeichnen.

Therapie

In einer Vielzahl von Studien konnte beim Menschen kein Nutzen von Antioxidantien enthaltenden Nahrungsergänzungen nachgewiesen werden.[15] Im Gegenteil deuten viele Metaanalysen auf die Schädlichkeit einer unbegründeten, breiten Zufuhr von Antioxidantien und Vitaminen hin, einschließlich erhöhter Mortalität. Ein Grund hierfür scheint zu sein, dass reaktive Sauerstoffspezies nicht nur gefährliche Abfallprodukte einer Zelle darstellen, sondern dieselben Sauerstoffspezies in niedriger Konzentration essentielle Signal- und Botenstofffunktionen ausführen (siehe Mitohormesis). Antioxidantien können aber per Definition zwischen beiden Funktionen von ROS nicht unterscheiden und interferieren sowohl mit möglicherweise schädlichen als auch schützenden Wirkungen. Ausreichende Untersuchungen, ob die in frischen Lebensmitteln wie Obst und Gemüse enthaltenen Antioxidantien eine therapeutische Wirkung haben, liegen noch nicht vor. Die vielfältig beobachtete Assoziation von gesteigertem Obst- und Gemüseverzehr mit gesteigerter Lebenserwartung bzw. reduziertem Krebsrisiko ist "kein" Beweis für die Wirksamkeit von Antioxidantien: verantwortlich für diese Assoziation können ebenso bspw. Ballaststoffe in Obst und Gemüse sein.